Wie Mercedes-Benz seine Elektro-Lkw zur Serienreife trimmt

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Daimler Truck

Michael Neißendorfer
Michael Neißendorfer
  —  Lesedauer 7 min

In Wörth am Rhein befindet sich nicht nur das größte Lkw-Produktionswerk von Mercedes-Benz Trucks, sondern zugleich auch das Entwicklungs- und Versuchszentrum (EVZ) des Unternehmens. Das EVZ ermögliche die konzentrierte Bündelung von Tests mit schweren Lkw an einem Ort auf insgesamt sechs innovativen Indoor-Prüfständen und der Einfahrbahn im direkt angeschlossenen Außenbereich, so der Hersteller in einer aktuellen Mitteilung.

Im EVZ sind diese Prüf- und Evaluierungsprozesse an der Tagesordnung – unabhängig von der Antriebsart der Fahrzeuge. Im Mittelpunkt der Aktivitäten steht jedoch zunehmend die Spezialisierung auf Testverfahren rund um batterieelektrische und wasserstoffbasierte Lkw-Antriebssysteme – und in deren Zentrum wiederum steht momentan der Elektro-Lkw eActros 600, der mit großen Schritten auf die Serienproduktion vorbereitet wird.

Im Prüfstandsgebäude 220 auf dem Wörther EVZ-Gelände steht die neu entwickelte und weltweit vermutlich einzigartige Multi-Stempelanlage zur Analyse des Schwingungsverhaltens von Fahrzeugen mit Hinblick auf Fahrerkomfort und Sicherheit. Ebenfalls dort installiert ist eine der leistungsstärksten Klimawechselkammern Europas, in der Versuche bei extrem kalten und extrem heißen Temperaturen durchgeführt werden können. Beide Prüfanlagen sind bereits von Anfang an im Hinblick auf Lkw mit alternativen Antrieben wie dem Mercedes‑Benz eActros 600 ausgelegt worden.

Fahrbahnsimulation und Fahrzeugverhalten in der Multi-Stempelanlage

Simuliert werden in der Multi-Stempelanlage Schwingungen, die durch unterschiedliche Fahrbahnoberflächen erzeugt werden. Dazu wird ein Kollektiv unterschiedlicher realer Fahrbahnoberflächen auf Basis von konkret vermessenen und im System eingespeicherten Daten erzeugt und simuliert, das von Autobahnrouten über Landstraßen und Schlaglochstrecken bis zur 100-prozentigen Schlechtwegstrecke reicht. Die Schwingungsanregung der Fahrzeuge erfolgt in Vertikal- und Längsrichtung durch Anregungssignale mit definierter Amplitude und Frequenz.

Oberstes Ziel der Entwickler ist es, in der Multi-Stempelanlage validierte Messergebnisse und reproduzierbare Schwingungs- und Resonanzanalysen von Gesamtfahrzeugen zu erhalten. Unabhängig von der Antriebsvariante können das Schwingungs- und Beschleunigungsverhalten einzelner Fahrzeugkomponenten und Bauteilgruppen überprüft und ausgewertet werden. Dabei werden das Verhalten von Rahmen und Aufbauten bei unterschiedlichen Anregungsfrequenzen und die Auswirkungen auf den Fahrkomfort gemessen und bewertet.

Die stabile Montage von beispielsweise Lagern und Dämpfern sowie die Auswirkungen von deren Schwingungsverhalten auf andere Fahrzeugkomponenten zählen ebenso zum Inhalt der möglichen Prüfumfänge in der Multi-Stempelanlage wie die Identifikation von Eng- und Scheuerstellen, zum Beispiel bei Kabel- und Rohrführungen. Je nach Umfang dauert die Untersuchung des Schwingungs- und Resonanzverhaltens des Gesamtfahrzeugs oder einzelner Baugruppen zwischen acht und 14 Tagen.

Aufbau und Funktion der Multi-Stempelanlage in Wörth

Die Multi-Stempelanlage mit ihren Dimensionen und ihren Prüfmöglichkeiten ist aufgrund ihres hohen Leistungsvermögens ein Unikat. Sie bildet einen Verbund aus zehn längs und zehn vertikal auf einem innovativen Schwingfundament installierten Hydraulikzylindern, die das aufgespannte Fahrzeug gezielt in Schwingung versetzen. Je ein vertikal und ein in Längsrichtung wirkender Zylinder sind pro Rad sowie, bei doppelt bereiften Achsen, pro Radpaar verbaut.

Das Schwingfundament ist auf einem Betonfundament gelagert und wird vor Beginn jedes Schwingungstests über Luftfedern angehoben und von der Umgebung entkoppelt. Dadurch wird verhindert, dass sich die während des Testablaufs erzeugten Schwingungen und Vibrationen auf das Prüfstandsgebäude übertragen. Betrieben wird die Multi-Stempelanlage durch ein Zentralhydraulik-Aggregat, bestehend aus acht Pumpen, mit einem Öldruck von 280 bar. Jeder Zylinder verfügt über ein Belastungslimit von acht Tonnen.

Mercedes-Benz-Stempelanlage-Lkw
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Die Zylinder lassen sich einzeln steuern. Die Multi-Stempelanlage ermöglicht somit die Messung, Untersuchung und Analyse des Schwingverhaltens von Gesamtfahrzeugen mit bis zu fünf Achsen und einer Gesamtlänge von maximal 20 Metern. Die Spurweite ist variabel – sie lässt sich stufenlos von 1,77 Metern bis 2,06 Metern einstellen. Fahrzeuge können in dieser Anlage zusammen mit Aufliegern oder Anhängern bis zu einer Breite von 2,50 Metern, einer Höhe von maximal 5,30 Metern, einer Radlast von maximal acht Tonnen und einem maximalen Gesamtgewicht bis 60 Tonnen getestet werden.

Heiß und kalt: die Hochleistungs-Klimawechselkammer

Die Hochleistungs-Klimawechselkammer im Wörther EVZ ist von Anfang an auf ihren Einsatz auch für Elektro- und Wasserstoff-Fahrzeuge hin ausgelegt worden. Der Vorteil: Im Gegensatz zu realen Vor-Ort-Tests beispielsweise in Finnland oder Spanien lassen sich in der Klimawechselkammer die simulierten Klimaverhältnisse unter vergleichbaren Rahmenbedingungen während des ganzen Jahres flexibel darstellen.

Die Klimawechselkammer arbeitet im Temperaturbereich von -40°C bis +70°C. Neben der Temperatur- verfügt sie auch über eine Feuchtigkeitsregelung, mit der sich unterschiedliche Feuchtigkeitsstufen bis zu 100 Prozent bedarfsgerecht innerhalb der physikalischen Möglichkeiten punktgenau einstellen lassen. So können technische Neuheiten sowie mechanische, elektrische und Komfort-Funktionen wie Klimaanlagen sowohl für konventionelle wie auch für alternative Antriebe unter arktischen bis hin zu subtropischen Klimabedingungen getestet werden.

Zwei Sattelzugmaschinen finden in der Klimawechselkammer Platz. In ihr wird die Funktion unterschiedlichster Systeme umfassend auf ihr Verhalten bei wechselnden Temperaturen und Feuchtigkeitszuständen getestet. Die Optimierung des Kaltstartverhaltens von Verbrenner- und Elektrofahrzeugen ist dabei eine wichtige Komponente. Bei E-Lkw werden vor allem das Batteriemanagement und der Batterieladestand (SoC) getestet.

Die Fahrerhausklimatisierung wird ebenso in der Klimawechselkammer geprüft wie der Zustand und die Effizienz der verwendeten Kälte- und Hitzeisolierung. Darüber hinaus werden Funktionstests mit mechanischen und elektrischen Komponenten wie Lenkung, Kippzylinder und Vorbauklappe unter unterschiedlichen Klimabedingungen durchgeführt. Spezielle Lkw-Sonderausstattungen für Einsätze in nordischen Ländern werden ebenfalls intensiven Prüfverfahren auf ihre einwandfreie Funktion bei arktischer Kälte hin unterzogen.

Schutz und Sicherheit bei extremer Hitze und Kälte

Für Testläufe ist die Klimawechselkammer als Sicherheits-Feature mit einer Abgas-Entlüftungsanlage sowie einer Gaswarnanlage für den Fall eines Austritts von Kohlenmonoxid, Wasserstoff oder Methan ausgestattet. Optische und akustische Warnsysteme fordern bei drohender Gefahr in drei Stufen zum sofortigen Verlassen der Klimawechselkammer auf. Das Warnsystem ist darüber hinaus direkt mit der Werkfeuerwehr verbunden.

Zu den Sicherheitsmaßnahmen zählt auch, dass die Leitstelle während eines laufenden Testverfahrens besetzt sein muss, wenn sich Personal in der Kammer aufhält. Es gelten strenge Zugangsbestimmungen, zusätzlich wird der Innenraum der Klimawechselkammer permanent mit Kameras überwacht: In der Kammer darf sich kein Mitarbeiter allein und ohne angepasste Schutzkleidung aufhalten. Es sind immer zwei Mitarbeiter anwesend, unter -25°C ist der Aufenthalt nur mit einer ärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung möglich. Ab +50°C darf sich kein Mitarbeiter mehr innerhalb der Klimawechselkammer aufhalten.

Ergänzende Prüfverfahren: Tests unter Realbedingungen

Die auf den Prüfanlagen in Wörth unter Laborbedingungen erzielten Testergebnisse werden permanent mit den Resultaten, die sich bei den oft wochenlangen Testfahrten auf europaweiten Outdoor-Prüfstrecken unter zumeist extremen Realbedingungen ergeben, vor Ort auf Reproduzierbarkeit hin überprüft und abgeglichen. Dabei kommt auch der Einfluss von Faktoren wie vereiste oder durch Hitzeeinwirkung aufgeweichte Fahrbahnzustände, Sonneneinstrahlung sowie Licht- und Windverhältnisse zum Tragen, die unter stationären Prüfbedingungen nicht darstellbar sind.

Zu diesen Tests zählen beispielsweise Prüfstrecken in Regionen wie dem im Winter extrem kalten finnischen Rovaniemi am Polarkreis (Wintertests) oder der im Sommer extrem heißen Sierra Nevada im südspanischen Andalusien (Sommertests). Die Funktionen der einzelnen Betriebs- und Batteriesysteme werden dadurch umfassend geprüft, abgesichert und optimiert.

E-Lkw-Mercedes-eActros600
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Bereits im vergangenen Sommer hat Mercedes-Benz Trucks den batterieelektrischen eActros 600 für den Fernverkehr erfolgreich im Sommer getestet. Rund fünf Wochen lang bewegten Versuchsingenieure den E-Lkw mit 44 Tonnen Gesamtzuggewicht und rund 22 Tonnen Nutzlast bei sehr hohen Temperaturen von bis zu +44°C in Südspanien. Die Bandbreite der Versuche reichte dabei von der Funktionstüchtigkeit der Klimaanlage bei großer Hitze über die Leistung des E-Antriebsstrangs und des Batterie-Thermomanagements bis hin zu Messungen bei Ladevorgängen an Schnellladesäulen. Nach Abschluss der Tests bewältigte darüber hinaus ein Prototyp auf eigener Achse die über 2000 Kilometer lange Strecke von Granada zurück in das Entwicklungs- und Versuchszentrum von Mercedes-Benz Trucks in Wörth am Rhein.

In Finnland hat Mercedes-Benz Trucks im März 2024 die letzte Wintererprobung des Fernverkehrs-Lkw Mercedes-Benz eActros 600 vor dessen geplantem Serienstart zum Ende des Jahres 2024 erfolgreich abgeschlossen. Bei Eis, Schnee und Temperaturen bis zu ‑35°C musste die weiterentwickelte Prototypen-Generation des eActros 600, die für Einsätze im wichtigen batterieelektrischen Transportsegment auf langen internationalen Strecken vorgesehen ist, ihre Einsatzfähigkeit und fernverkehrstaugliche Reichweite unter extrem widrigen Bedingungen unter Beweis stellen.

E-Lkw-Mercedes-eActros
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Insbesondere wurden auf dem Testgelände in Rovaniemi die Auswirkungen extremer Kälte auf Handling, Ergonomie und Komfort getestet. Überprüft wurden außerdem Kriterien wie das Startverhalten und die Kälteabsicherung der Antriebskomponenten, das Thermomanagement, das Ladeverhalten und die Robustheit der Sensorik.

Quelle: Daimler Truck – Pressemitteilung vom 25.03.2024

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Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer ist E-Mobility-Journalist und hat stets das große Ganze im Blick: Darum schreibt er nicht nur über E-Autos, sondern auch andere Arten fossilfreier Mobilität sowie über Stromnetze, erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit im Allgemeinen.
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Hans:

Mercedes-Benz hat mit LKW nichts am Hut. Du meinst sicherlich Daimler Truck…

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